• 8. Juli 2019

Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt

„Jede Generation muss sich aufs Neue für Demokratie öffnen!“

Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt

Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt 150 150 Sven Lilienström

„Jede Generation muss sich aufs Neue für Demokratie öffnen!“

Dr. Reiner Haseloff (CDU) ist seit dem Frühjahr 2011 Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. Dort regiert der 65-Jährige seit seiner Wiederwahl im Jahr 2016 mit dem bundesweit ersten Bündnis aus CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Zuvor war Haseloff Minister für Wirtschaft und Arbeit des Landes Sachsen-Anhalt. Er hat zwei verheiratete Söhne sowie fünf Enkelkinder. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit Dr. Reiner Haseloff über die Verantwortung der Medien, die Lebensverhältnisse in Ost und West und die Frage, wo und warum die Grenze der DDR noch viele Jahrzehnte existieren wird.

Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie und Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt | © Staatskanzlei Sachsen-Anhalt

Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie und Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt | © Staatskanzlei Sachsen-Anhalt

Herr Ministerpräsident, vielen Dank für die Einladung nach Magdeburg. Auch Sie möchten wir zuerst fragen: Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Reiner Haseloff: Ich selbst habe zwei Regierungsformen miterlebt: Diktatur und Demokratie. Die ersten 35 Lebensjahre bin ich in der DDR – also in einer Diktatur – aufgewachsen.

Aufgrund meiner Erfahrungen aus der ersten Lebenshälfte käme ich niemals auf die Idee, Demokratie in Frage zu stellen!

Seit der Wende lebe ich in einer Demokratie. Aufgrund meiner Erfahrungen aus der ersten Lebenshälfte käme ich niemals auf die Idee, Demokratie in Frage zu stellen, oder in Frage stellen zu lassen.

Insbesondere jungen Menschen, die in einer Demokratie geboren und aufgewachsen sind und sich zum Teil über die langen Moderations- und Entscheidungsprozesse beklagen, versuche ich immer wieder zu erklären, wie froh wir sein können, in einer Demokratie zu leben. Denen sage ich dann: Die Alternative kann ich Euch gerne beschreiben!

Ihr Bundesland profitiert in vielerlei Hinsicht von der EU. 2,9 Mrd. Euro Fördermittel von 2014 bis 2020 zeigen nur die finanzielle Seite. Welche Rolle spielt Europa im Alltag der Menschen in Sachsen-Anhalt?

Reiner Haseloff: Viele Menschen nehmen die Vorteile der Europäischen Union mit all ihren Freizügigkeiten im Alltag kaum oder nur unbewusst wahr.

Die Selbstverständlichkeit, mit der wir von den Vorteilen der EU profitieren, zeigt, dass Europa auf einem stabilen Fundament steht.

Wir nehmen es wie selbstverständlich in Anspruch, Urlaubsreisen innerhalb der EU ohne Visum zu organisieren. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir tagtäglich von den Vorteilen der EU profitieren, zeigt, dass Europa auf einem stabilen Fundament steht.

Auf der anderen Seite müssen wir – auch mit Blick auf die Situation der Ukraine, der Krim oder die Wahlergebnisse innerhalb der EU – immer verdeutlichen, dass es ein Vorteil ist, aus der politischen Mitte heraus regiert zu werden. Dies gilt sowohl auf Bundes-, als auch auf Landesebene. Insbesondere die derzeitigen Landtags-Wahlkämpfe zeigen, dass dies nicht selbstverständlich ist.

Laut Umfrage des „IfD Allensbach“ stimmen nur 42 Prozent der Ostdeutschen der Aussage zu, dass die Demokratie hierzulande die beste Staatsform sei. Hat Ostdeutschland ein Problem mit der Demokratie?

Reiner Haseloff: Ich bin der Auffassung, dass solche Umfragen oftmals ein recht unscharfes Bild der realen Situation wiederspiegeln.

Leider sind die Zahlen aus Umfragen häufig auch ein Ergebnis von reflexartigen Antworten.

Würden die Fragen auch die alltäglich spürbaren Vorteile der Demokratie erwähnen und wären nicht verkürzt, würde wahrscheinlich ein wesentlich geringerer Teil der Befragten die Demokratie als beste Staatsform in Frage stellen. Leider sind die Zahlen aus Umfragen häufig auch ein Ergebnis von reflexartigen Antworten.

Was uns aber zu denken geben sollte ist, dass die momentane Außenwirkung von demokratischen Prozessen kommunikativ sehr „suboptimal“ ist. Hier appelliere ich insbesondere an die Verantwortungsträger der transportierenden medialen Strukturen. Politiker und Medien – also die Multiplikatoren unserer Gesellschaft – müssen es als Selbstverpflichtung sehen, komplexe Sachverhalte und Zusammenhänge deutlicher zu artikulieren und zu erklären.

Jede Generation muss sich aufs Neue für Demokratie öffnen!

Klar ist doch: Jede Generation muss sich aufs Neue für Demokratie öffnen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass wir bereits durch unsere Kommunikation Informationen vermitteln. Und das in einer Sprache, die jeder versteht!

Stichwort „Fake News“: Portale, die gezielt Falschmeldungen verbreiten, erzielen in sozialen Netzwerken oftmals mehr Reichweite als etablierte Nachrichtenseiten. Ist der klassische Journalismus in Gefahr?

Reiner Haseloff: Ich glaube nicht, dass der klassische Journalismus in Gefahr ist – es sei denn, er passt sich zu sehr der Kommunikation in den sozialen Netzwerken an. Aufgabe des klassischen Journalismus ist es dafür zu sorgen, dass durch die Vermittlung seriöser und valider Berichterstattung politische Bildung und Medienkompetenz entsteht. In Lichtgeschwindigkeit verfasste Überschriften und Botschaften tragen nicht dazu bei.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir das Bedürfnis haben, faktenbasierte Informationen zu konsumieren.

Apropos Medienkompetenz: Genauso, wie in früheren Zeiten mit einem Rechenschieber Mathematik erlernt wurde, so gilt es heute, den richtigen Umgang mit dem Smartphone und die richtige Kommunikation in sozialen Netzwerken zu erlernen. Dazu gehört auch, zertifizierte Accounts von Fake-Accounts zu unterscheiden. So wie die Menschen früher, als der Buchdruck erfunden wurde, lesen gelernt haben, so müssen wir jetzt auf neue Art „lesen lernen“. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir von Natur aus das Bedürfnis haben, faktenbasierte Informationen zu konsumieren und keine Lügengeschichten. Hier müssen alle Beteiligten in Zukunft mehr Aufwand betreiben.

In einem Interview sagten Sie kürzlich, in Bezug auf Einkommen und Vermögen sei die Grenze der DDR noch immer sichtbar. Brauchen wir weitere 30 Jahre, um gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen?

Reiner Haseloff: Der Begriff „gleichwertige Lebensverhältnisse“ ist weit gefasst.

Vierzig Jahre DDR-Diktatur in diesem Jahrhundert lassen sich nicht einfach ungeschehen machen!

Die deutschen föderalen Ausgleichsprozesse sind gut geeignet, um einen Grundkorridor zu definieren – trotzdem lassen sich 40 Jahre DDR-Diktatur in diesem Jahrhundert nicht einfach ungeschehen machen.

Schon in der Bibel steht geschrieben (2. Mose – Kapitel 20): „Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, bis in die dritte und vierte Generation.“ Im 21. Jahrhundert und im dritten Jahrtausend nach Christus muss es uns eine deutliche Warnung sein, dass ein Sündenfall wie das furchtbare NS-Regime mit der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und der sich anschließenden Teilung Deutschlands sich nicht einfach wie ein Stachel herausziehen und aus unserem Gedächtnis tilgen lässt und damit die Vergangenheit ungeschehen ist.

Wir werden noch bis Ende des Jahrhunderts in zahlreichen statistischen Fakten die Grenze der DDR abgebildet sehen.

Ich bin mir sicher, dass wir noch bis Ende des Jahrhunderts in zahlreichen statistischen Fakten des Statistischen Bundesamts ganz filigran auf den Zentimeter genau die Grenze der DDR abgebildet sehen. So etwas wächst sich erst mühsam über mehrere Generationen aus.

Für die Westdeutschen war es mehr oder weniger ein Prozess, der kaum verspürt wurde. Diese Zusammenhänge müssen einer Nation, die in einer gemeinsamen Geschichte verbunden ist, immer bewusst bleiben und vor allen Dingen noch in Jahrzehnten erklärt werden können. Ich bin seit 2011 Ministerpräsident in Deutschland und bereits jetzt ist es zum Teil schwer, den jungen nachkommenden Kollegen – insbesondere wenn es um Fördernotwendigkeiten oder Ausgleichsnotwendigkeiten geht – klar zu machen, dass Ungleichgewichte nicht aus der Gegenwart, sondern aus der Geschichte heraus resultieren. Dass wir eben keine Dax-Unternehmen im Osten haben und auch Führungskräfte aus dem Osten auf Bundesebene rar sind. Hinsichtlich dieser Thematik werden wir noch sehr lange die alte DDR-Grenze sehen.

Die Abwanderung von Unternehmen aus dem Osten war eine Folge des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Teilung.

Wir können doch heute noch sehen, dass das Saarland bis 1957 eine andere Entwicklung genommen hat als der Rest Westdeutschlands. Das gilt stärker noch für den Osten. Audi wurde in Zwickau gegründet, die Automobilproduktion von BMW erfolgte in Eisenach. 1939 war die Industrieproduktion im Osten je Einwohner deutlich über der im Westen. Die Abwanderung von Unternehmen war eine Folge des Zweiten Weltkrieges und der daraus resultierenden deutschen Teilung. Diese Beispiele zeigen, was passiert, wenn wir in der Geschichte Dinge zulassen, die nie hätten zugelassen werden dürfen!

Mit dem geplanten Bau eines Werks für Elektrofahrzeug-Batterien steht Ihrem Bundesland die größte Investition seit 15 Jahren bevor. Warum ist Sachsen-Anhalt bei Investoren plötzlich so beliebt?

Reiner Haseloff: Wir hatten – mit Höhen und Tiefen – immer ganz gute Investitionen, so dass die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung seit der Jahrtausendwende im Schnitt und trotz abnehmender Bevölkerung immer leicht angestiegen ist. Und auch die Lohnentwicklung war mit am dynamischsten.

Wir haben damals die Entscheidung getroffen, den Chemiesektor zu revitalisieren, so dass wir heute modernste Chemieparks haben.

Wir haben damals die Entscheidung getroffen, den Chemiesektor zu revitalisieren mit dem Resultat, dass wir heute modernste Chemieparks haben, die jetzt hinsichtlich der Technologie- und Mobilitätsentwicklung ihre Chance erhalten.

Im Bereich Elektro-Chemie haben wir beispielsweise eine Wasserstoff-Pipeline zwischen Leuna und Bitterfeld gebaut. Sachsen-Anhalt hat 130 Prozent Eigenversorgung mit Elektrizität, den Rest exportieren wir. Unser Vorteil ist, dass wir mit den bereits vorhandenen Grundstrukturen, dem vorhandenen Platz und dem Know-how auch technologisch punkten und wieder sukzessive Erträge erzielen können.

Herr Dr. Haseloff, Sie sind seit nunmehr acht Jahren Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. Welcher war Ihr bislang emotionalster Moment und was planen Sie für die Zukunft?

Reiner Haseloff: Emotionale Gefühlslagen hat man sicherlich eher im persönlichen und familiären Bereich.

Das emotionalste private Erlebnis der letzten Zeit war die Geburt unseres fünften Enkelkindes.

So war für mich privat das emotionalste Erlebnis in der letzten Zeit die Geburt unseres fünften Enkelkindes, der dritten Enkeltochter, die leider im ersten Jahr schwer erkrankt war, so dass wir die Hoffnung auf eine Genesung fast schon aufgegeben hatten. Erfreulicherweise ist sie heute gesund und sehr agil, aber dennoch war die Zeit sehr emotional.

Politisch gesehen war das Wahljahr 2016 eines der schwierigsten Jahre, welches die Bundesrepublik erlebt hat. Es ist uns aber gelungen, mit den beiden anderen Partnern eine Regierung zu bilden, die eine knappe Mehrheit hat und politische Verantwortung zu übernehmen. Stellen Sie sich vor, welche Reaktionen erfolgt wären, hätten wir politische Kompromisse eingehen müssen, die eine stabile Regierungsbildung gefährdet hätten. Das war sicherlich eine Herausforderung. Aber es ist ein gutes Zeichen dafür, das es noch immer möglich ist durch sachliche und pragmatische Politik in der Mitte eine Mehrheit zu finden!

Vielen Dank für das Interview Herr Ministerpräsident!

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