„Liberalität ist eine tägliche Herausforderung!“
Stephan-Andreas Casdorff ist Herausgeber der in Berlin erscheinenden Tageszeitung „Der Tagesspiegel“. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit Stephan-Andreas Casdorff über Demokratie, soziale Netzwerke und die Notwendigkeit einer unabhängigen Presse.
Herr Casdorff, welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?
Stephan-Andreas Casdorff: Als Teil einer Bürgergesellschaft, die auf dem Ideal der Demokratie fußt, fühle ich mich grundsätzlich verpflichtet, deren Werte zu leben und zu verteidigen. Als Teil einer Familie, die in finsteren Zeiten gegen den Totalitarismus gestanden hat, fühle ich mich auch ganz persönlich herausgefordert, mein Bestes für die Demokratie zu geben. Und als Teil der Gruppe, für die Presse- und Meinungsfreiheit gilt, bin ich außerdem besonders aufgerufen, für dieses konstitutive Element jeder Demokratie einzustehen.
Die Demokratie befindet sich derzeit mehr denn je in einem fragilen Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit. Spätestens seit den Terroranschlägen in Berlin wächst das Sicherheitsbedürfnis der Deutschen zunehmend. Ist unsere liberale Gesellschaft in Gefahr?
Stephan-Andreas Casdorff: Sie ist dann in Gefahr, wenn die Gesellschaft eines ihrer wesentlichen Merkmale verliert: ihre Zivilität. Die muss sich ausdrücken in Maß und Mitte. Beides zu finden und zu bewahren, ist uns aufgetragen – täglich. Wer darin nachlässt, gefährdet die Freiheit, das Gut, ohne das es keine Demokratie gibt.
In der Türkei sitzt der WELT-Korrespondent Deniz Yücel seit mehr als 100 Tagen in Untersuchungshaft. Nutzt die Bundesregierung Ihrer Meinung nach alle gebotenen diplomatischen Mittel zur Freilassung Yücel‘s, oder hat die deutsche Krisendiplomatie versagt?
Stephan-Andreas Casdorff: Unser Stolz und unsere Tradition als Journalisten sind die Kollegen, die 1832 zum Hambacher Fest einluden, einem Hochfest der Demokratie – und dafür ins Gefängnis gingen. Darum, denke ich, müssen die Vertreter des Souveräns, die Volksvertreter, und die von ihnen bestimmte Exekutive, die Bundesregierung, alles tun, was dieser Tradition entspricht. Alles. Das ist noch lange nicht erreicht.
Stichwort „Fake News“: Derzeit scheint sich ein Teil der Amerikaner wieder auf einen verlässlichen Qualitätsjournalismus zu besinnen – das Digitalgeschäft der New York Times boomt. Wie nachhaltig ist dieser Trend und wie entwickelt sich die deutsche Presselandschaft?
Stephan-Andreas Casdorff: Nachhaltig! Der gegenwärtige US-Präsident bezeugt täglich die Relevanz und Notwendigkeit einer unabhängigen, freien Presse, ob in Rinde geschnitzt oder in digitale Ziffern umgerechnet. Nennen wir es Zeitung oder anders, gleichviel, der Anspruch ist, Autorität, Ratgeber, Schule des Skeptizismus und brillanter Geschichtenerzähler im besten Sinn zu sein. So entwickeln wir uns täglich weiter, wir, der Tagesspiegel, Teil der Presselandschaft.
Eine Vielzahl der Kommentare auf Nachrichtenseiten oder in sozialen Netzwerken hetzt öffentlich gegen Europa, Zuwanderung und Freihandel. Sind die nationalkonservativen Stimmen einfach nur hörbarer, oder befindet sich die liberale Leserschaft im „Dornröschenschlaf“?
Stephan-Andreas Casdorff: Liberalität ist hart erworben, ist eine tägliche Herausforderung. Wer das richtig versteht, der wird nicht schweigen, wo Illiberalität Platz greift. Und immer weniger schweigen, immer mehr reden, schreiben, posten dagegen an.
Betrachten wir den Arabischen Frühling, die Trump-Wahl oder das Verfassungsreferendum in der Türkei. Sind soziale Netzwerke wie Facebook, YouTube oder Twitter gut oder schlecht für Demokratie und Freiheit in der Welt?
Stephan-Andreas Casdorff: Nie ist etwas nur gut oder nur schlecht. Gut oder schlecht können wir sein, wir als Nutzer. Und gut oder schlecht können wir die Instrumente nutzen. Netzwerke sind dann sozial, wenn sie dazu beitragen, demokratischen Diskurs zu ermöglichen und auch eine Debatte über Möglichkeiten der Demokratie. Jeder kann selbst entscheiden, ob er daran teilhaben will. Jeder muss es auch, wenn er daran teilhaben will. Und jeder, der ein Nutzer ist, kann entscheiden, wie. Diese wohlverstandene persönliche Freiheit kann die der Gesellschaft stärken.
Herr Casdorff, zu Ihrem 58. Geburtstag sagten Sie, dass die Familie in Ihrem Leben eindeutig am wichtigsten sei. Was Sie wünschen Sie sich für die nächsten 20 Jahre – beruflich und privat?
Stephan-Andreas Casdorff: Neulich lautete die Frage so: Was war das Beste, was Sie im Leben erreicht haben? Darauf meine Antwort: Nicht was WAR, sondern was IST – eine Familie zu haben. Ansonsten: The best is yet to come. Da geht immer noch was.
Vielen Dank für das Interview Herr Casdorff!
Anmerkung: Das Interview führten wir 2017 mit Stephan-Andreas Casdorff in seiner damaligen Funktion als Chefredakteur von „Der Tagesspiegel“.